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Kolumne der Schüttgut & Prozess 5/2025

Von wegen frei fließend! – Schüttgut unter der Lupe

Letzten Monat war ich – wie viele von Ihnen – auf der POWTECH TECHNOPHARM in Nürnberg. Zwischen Messeständen, Vorträgen und dem ein oder anderen Kaltgetränk ergaben sich Gespräche rund um die Simulation in der Verfahrenstechnik. Themen wie Förderbarkeit in kniffligen Situationen, Wärmeeintrag in Schüttguttrocknern oder Festigkeitsanalysen bei Druckstößen und thermischen Zyklen zeigen mir: Die Aufmerksamkeit für Simulation wächst.

Kleine Firmen entdecken die Simulation

Besonders auffällig war, dass sich auch kleinere Firmen erstmals mit dem Thema befassen, während größere Unternehmen von Forschungsvorhaben und Studienarbeiten berichteten. Doch der eigentliche Grund, warum ich heute schreibe, ist ein wiederkehrendes Gesprächsthema: die Kalibrierung von Schüttgut. Mehrere Labore und Dienstleister sprachen mich auf ihre Möglichkeiten zur Charakterisierung an. Grund genug, erneut einen Blick auf die Thematik zu werfen (s. Ausgabe 02/2024).

Eine Simulation von kleinen Kügelchen in rechtes einen Kolben und links einer Kugel
Abbildung 2: Simulationen vom dynamischen Schüttwinkel, bei dem gerade kohäsives Material abgleitet [links] und dem FT4-Rheometer (in Schnittdarstellung), bei welchem ein rotierendes Flügelrad im Pulver auf und ab bewegt wird [rechts] (Färbung nach Geschwindigkeit)

Was bedeutet Schüttgut-Kalibrierung?

Zunächst einmal: Schüttgutkalibrierung ist nicht immer gleich. Für grobe Materialien zählen Partikelform und Sieblinie mehr als eine aufwändige Charakterisierung. Der Grund liegt in der Physik: Die Kontaktkräfte basieren auf der Oberfläche, während die Gewichtskraft auf dem Volumen basiert. Heißt bei einer Verdopplung der Partikelegröße, steigt die Anziehungskraft im einfachsten Falle um Faktor 4, die Massenkräfte aber um Faktor 8 – ein Zusammenhang, der von Dr. Dietmar Schulze in seinem Buch „Pulver und Schüttgüter“ im Detail erklärt wird. Bei hoher Partikelgröße verlieren Oberflächenkräfte daher an Relevanz. Deshalb sind Kunden aus dem Bergbau häufig mit statischen Schüttwinkeln zufrieden. Werden die Partikel jedoch kleiner, steigt der Einfluss der Oberflächenkräfte – und damit der Kalibrationsaufwand.

Analyse des Fließverhaltens von Schüttgut
Abbildung 3: Vergleich des Fließverhaltens von Sesamsamen in Experiment und Simulation am Beispiel des Galtonbretts

Beschränktes und freies Fließen – zwei Kalibrierungsarten

Um nicht für jeden Prozess einen eigenen Prüfstand zu erfinden, geschieht die Kalibrierung nach der Art des Fließens:

  • Beschränktes Fließen tritt z. B. in Silos auf, wo Druck und Verfestigung dominieren.
  • Freies Fließen findet man überall dort, wo das Schüttgut ohne großen Krafteintrag bewegt wird.

Ringscherzelle als Standard für beschränktes Fließen

Wie in Ausgabe 02/2024 bereits erwähnt, ist für beschränktes Fließen die Ringscherzelle das optimale Mittel zur Kalibrierung. Hiermit haben wir bereits für Silofragestellungen gute Erfahrungen gemacht und Realität und Simulation passten auf Anhieb zusammen. Auch themenfern, für die Ver- und Entfestigung von Erde in der Bodenbearbeitung, konnten wir mit Mario Diktys Unterstützung die Materialien schnell und erfolgreich kalibrieren.

Herausforderungen beim freien Fließen

Doch beim freien Fließen liegt der Fall etwas anders. Einerseits gibt es nicht den einen Prüfstand. Manche setzen auf den dynamischen Schüttwinkel (auch rotating drum), andere auf das FT4-Rheometer, welches in der Pharmazie eine große Verbreitung hat (s. Abb. 2). Andererseits ist die Realität nicht nur schwarz oder weiß. In Schneckenförderern oder hinter Siloauslässen kann es zur Kompaktierung kommen, obwohl man von freiem Fließen ausgeht, sodass sich hier die Frage stellt, ob es sich wirklich noch um freies oder beschränktes Fließen für die Kalibrierung handelt – ein Punkt, der mir im Gespräch mit Dr. Claas Bierwisch besonders deutlich wurde. Er ist Gruppenleiter am Fraunhofer IWM und verantwortlich für Schüttgutsimulation, partikuläre Produktionsprozesse sowie additive Fertigung. In unserem Gespräch betonte er, dass Kunden z. B. bei Metallpulvern häufig lediglich den Hall-Flow-Wert aus dem Datenblatt erhalten – – ein einzelner Wert, der jedoch wenig über das tatsächliche Fließverhalten aussagt.

Das FlowBoard des Fraunhofer IWM – neue Ansätze für die Kalibrierung

Um eine große Bandbreite an Schüttgütern kalibrieren zu können, hat sein Team einen eigenen Prüfstand entwickelt: das sogenannte FlowBoard (s. Abb. 1). Es erlaubt die Realisierung unterschiedlicher Aufbauten vor einer Kamera, um Schüttgutflüsse aufzuzeichnen und mit Simulationen abzugleichen. Noch ist das Projekt in der Entwicklung – das Patent ist frisch, und die Einbauten zur Charakterisierung werden derzeit erprobt. Ziel ist es, Einbauten zu finden, die besonders sensitiv auf bestimmte Parameter reagieren, um die Kalibrierung effizient zu gestalten.

Datenbank für Fließverhalten und effiziente Kalibrierung

Die Vision: Eine Datenbank mit Fließbildern aus Versuch und Simulation (s. Abb. 3), die für jedes neue Material einen schnellen Startwert liefert, sowie die passenden Einbauten für eine gezielte Detailkalibrierung. Wenn alles gut läuft, entsteht hier ein Out-of-the-box-Schüttguttester, mit dem auch frei fließende Prozesse ähnlich zuverlässig kalibriert werden können wie beschränktes Fließen mit der Ringscherzelle.

KI-gestützte Schüttgutkalibrierung

Im nächsten Teil dieser Kolumne führen wir das Thema Kalibrierung noch einmal fort und ich berichte von Dr. Patrick Neuenfeldt, Gründer der SADEN GmbH. Er hat ebenfalls einen eigenen Prüfstand entwickelt mit dem freies Fließen schon jetzt problemlos mit KI-Unterstützung kalibrierbar sein soll. Dazu mehr beim nächsten Mal!

Dr.-Ing. Jan-Philipp Fürstenau

Der Autor unserer Schüttgut-Kolumne ist Dr.-Ing. Jan-Philipp Fürstenau. Als Application Engineer Ansys Rocky bei der CADFEM Germany GmbH beschäftigt er sich primär im Rahmen der Partikelsimulation mit Fragen der Verfahrens- und Schüttguttechnik.

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